1.9 Petrus als Organisator und Missionsstratege

In der Apg schlägt Petrus die Zuwahl zur Ergänzung des Zwölfergremiums vor, beim Pfingstfest ergreift er die Initiative, er spricht das Urteil über Ananias und Sapphira, er ist der Sprecher der neuen messianischen Gemeinde gegenüber den Jerusalemer Hierarchen. Er besucht zusammen mit Johannes die von Philippus neugewonnenen Christen in Samarien, er weist den Magier Simon in die Schranken und führt durch seine Wunder in Jerusalem, in Lydda, der Saronebene und Joppe viele zum Glauben. Der Höhepunkt dieser von Lukas gesammelten und kunstvoll ausgestalteten Petruslegenden ist die Bekehrung des gottesfürchtigen Centurio Cornelius. Aufgrund dieser Erzählungen und der darin geschilderten Führungsrolle des Petrus ist zu vermuten, dass er bei der Konsolidierung der Jesusbewegung nach Ostern im Mutterland die maßgebliche Rolle spielte. Dass aus dieser eine selbstbewusste, missionarisch aktive messianische Gemeinde wurde, die selbst bei den griechischsprechenden Juden in Jerusalem, den sog. „Hellenisten“, erfolgreich war, ist auch sein Verdienst. Wegen dieser seiner Autorität besucht Paulus in Jerusalem nur ihn und ist zwei Wochen lang sein Gast. Herodes Agrippa I. lässt Petrus als führenden Mann der neuen Bewegung verhaften und will ihn hinrichten lassen. Auch im Konflikt in Antiochien spielt Petrus die beherrschende Rolle. Paulus kann nichts gegen ihn ausrichten und muss weichen, denn in den Augen der damals noch maßgeblichen Judenchristen war der Heidenmissionar im Unrecht. Man kann annehmen, dass Petrus nicht nur die missionarische Verkündigung, sondern auch der Aufbau und der Zusammenhalt der verschiedenen Gemeinden am Herzen lag, zunächst im jüdischen Palästina, aber nach der Agrippaverfolgung auch über dessen Grenzen hinaus in Syrien und schließlich bis nach Rom. So wie Paulus auf ihn bezogene Gemeinden schuf, wird es auch auf Petrus ausgerichtete Gemeinden gegeben haben. In Antiochien kann man von einer Verdrängung des Paulus durch Petrus sprechen, in Korinth war eine zeitlang eine ähnliche Entwicklung zu befürchten. Die vielseitigen Mahnungen zur Einheit quer durch das NT zeigen, dass diese immer bedroht und durchaus nicht selbstverständlich war (145-7).

Wenn Mt 16,18 in so einzigartiger Weise den Bau der Kirche durch Christus selbst mit dem Felsenmann verbindet, so ist dies dadurch mit begründet, dass Matthäus davon überzeugt ist, dass Petrus sich in besonderer Weise um den Zusammenhalt der verschiedenen Jesusgemeinden untereinander bemüht hat. Es ist ein Wunder, dass die Urkirche trotz vielfältiger Konflikte und Spannungen nicht schon im 1.Jh. in verschiedene, sich bekämpfende Gruppen auseinandergefallen ist. Auch die Einflussnahme des Petrus auf pln Missionsgemeinden, etwa in Korinth, mag mit diesem Bestreben um Einheit zusammenhängen. Nach der Apg begründet Petrus keine eigenen Gemeinden, sondern besucht, ’inspiziert’ schon bestehende, so in Samarien und Lydda. Nach Joppe wird er gerufen. In Caesarea wirkte bereits Philippus als Missionar, aber dem Rang eines römischen Centurio entspricht es, dass er und sein Haus sich durch die Verkündigung des führenden Apostels zu Jesus bekehren. In Antiochien besucht Petrus die wichtigsten Gemeinden in Syrien (147f).

Die sehr selbstbewussten Gegner des Paulus in Korinth, die mit Empfehlungsbriefen anreisen (2Kor 3,1ff) und ihm seine apostolische Würde absprechen, treten mit einem Anspruch auf, dass er (ironisch gesprochen) „es nicht wage“, sich ihnen „gleichzustellen oder sich mit ihnen [einigen] zu vergleichen“. Gleichzeitig wirft Paulus ihnen vor, dass sie, im Gegensatz zu ihm, in „fremde [missionarische] Arbeitsgebiete einbrechen und sich dort maßlos über das bereits [von anderen] Geschaffene rühmen“ (2Kor 10,12-18). Bei diesen einflussreichen Missionaren, hinter denen ein großer Autoritätsanspruch steht, handelt es sich am ehesten um Abgesandte der Petrusmission. Sie stellen das Recht des apostolischen Wirkens des Paulus in Frage. Doch Paulus, der die korinthische Gemeinde durch das Evangelium begründete (1Kor 3,10ff), hat sich damit durchaus nicht übernommen, die ihm von Gott bestimmte Grenze seines Missionsauftrags im Gegensatz zu seinen Widersachern nicht „überspannt“ (2Kor 10,14). Er ist zuversichtlich, wenn die Dinge in Korinth geordnet sind, auch in Gebieten jenseits von Achaja bis nach Spanien (Röm 15,24.28) das Evangelium zu verkündigen; ohne dabei wie die Gegner in eine schon von anderen geleistete Missionsarbeit einzugreifen (149f):

In Röm 15 spricht Paulus Probleme an, die auch in der Auseinandersetzung mit seinen ptrn Gegnern in Korinth eine Rolle spielten und die zeigen, dass es sich bei diesen nicht um eine Randgruppe handelt, sondern um eine einflussreiche, konkurrierende Missionsbewegung. In Röm 15,19f betont Paulus ähnlich wie in 2Kor 13,3 den Erweis seiner (apostolischen) Vollmacht: Christus habe durch ihn gewirkt „in der Kraft von Zeichen und Wundern und in der Kraft des Geistes Gottes. So habe ich von Jerusalem aus ringsumher bis nach Illyrien [die Verkündigung] des Evangeliums von Christus vollausgerichtet“. Unvermittelt fügt er hinzu: „Dabei legte ich meine Ehre darein, das Evangelium nicht dort zu verkündigen, wo Christus [schon] genannt worden war, damit ich nicht auf ein fremdes Fundament baue“. Dieser Hinweis wird am besten verständlich, wenn sich Paulus damit von einer anderen konkurrierenden Missionsbewegung (der Petrusmission) abgrenzt, die seiner Ansicht nach mit Vorliebe auf „ein fremdes Fundament“ baute. Darum kündigt er sich nicht in Rom als Missionar an, sondern als durchreisender Besucher auf dem Wege nach Spanien (Röm 15,23ff). Die römische Gemeinde besteht schon seit längerer Zeit (Röm 1,10-13; 15,22) und könnte so alt sein wie Antiochien. Eine Beziehung zwischen Petrus und den unbekannten judenchristlichen Gemeindegründern ist naheliegend, eine Beziehung, die auch die spätere Reise des Petrus nach Rom erklären könnte (152f).

Petrus verfügte, als der bis 42/43 führende Mann in der Urgemeinde und dann auch in Syrien und darüber hinaus, gewiss über eine größere Zahl von judenchristlichen Missionsgehilfen, die die griechische Sprache einwandfrei beherrschten. Er war in diesem Punkt in einer besseren Situation als der Außenseiter Paulus, der für seine dritte Reise keinen Jerusalemer Reisebegleiter mehr hatte. Das Ansehen und der Einfluss des Petrus bei den in vielen Missionsgemeinden der Diaspora außerhalb Palästinas immer noch führenden Judenchristen muss groß gewesen sein und wird ebenso für Rom gelten. Die Petrusmission wird in der Hauptstadt eine wesentliche Rolle gespielt haben. D.h. dass Petrus nicht nur eine überragende Autorität, sondern auch ein fähiger Organisator und Missionsstratege war. Die Aufgabe weltweiter Mission hat auch er vertreten und sie schloss für ihn die Verkündigung unter den Heiden mit ein (154f).

Die auffallende Bedeutung des Felsenmannes in der Urkirche liegt in der über Jahrzehnte bis zu seinem Tode andauernden Autorität seiner Persönlichkeit als Jünger Jesu, theologischer Lehrer, Missionar und überregionaler Gemeindeleiter und nach seinem Tode als Märtyrer (Anm. 323).

Das Felsenwort Mt 16,17-19 und der Hinweis auf den Glauben des Petrus, der durch Jesu Fürbitte nicht wanken wird und durch den er seine Brüder stärken soll (Lk 22,32), sowie die dreifache Aufforderung des Auferstandenen, seine Herde zu weiden (Joh 21,15-17), beschränken sich nicht allein auf die Frühzeit, sondern betreffen das ganze Wirken des Petrus bis zu seinem Martyrium. Derartige Petrustexte in den Evangelien wären ohne dessen intensive Wirksamkeit in diesen für uns dunklen Jahren überhaupt nicht entstanden bzw. nicht überliefert worden (157).