(4) Das Verständnis von Rettung und Heil im Lk-Ev und in der Apg

A. Weiser

Die beiden Stellen Lk 22,19f und Apg 20,28 sind die einzigen im gesamten Doppelwerk, die dem Sterben Jesu einen heilswirksamen Sinn beimessen. D.h. Lukas und seiner Gemeinde war die Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu bekannt. Um so erstaunlicher ist es, dass Lukas dieses Verständnis für die Heilsbegründung und Heilsverkündigung nie verwertet hat. Er hat sie vielmehr bewusst vermieden und zugunsten einer anderen Konzeption umgangen (145).

Vermeidung der Vorstellung vom Sühnetod

Trotz des deutlichen Sprechens vom Sterben Jesu am Kreuz sagt Lukas an keiner Stelle, dass es ein Sterben zugunsten anderer oder stellvertretend für andere war. Lukas spricht weder in den Leidensankündigungen davon, noch in der Passionserzählung, noch in den Reden der Apg, obwohl in ihnen die Hinrichtung Jesu jedesmal ausdrücklich erwähnt wird. Die aus dem Mk-Ev aufgenommene Sprechweise, dass Jesus gemäß des göttlichen Heilsplans leiden und sterben 'muss', hat Lukas noch verstärkt, indem er zu den vorgegebenen Stellen noch weitere selbständig hinzufügte (Lk 24,26; Apg 17,3). Aber an keiner von ihnen formuliert er den Heilssinn. Selbst dort, wo Lukas den Text von der stellvertretenden Sühne des sterbenden Gottesknechtes aus Jes 53 zitiert, lässt er den Sühnegedanken konsequent fort (Lk 22,37; Apg 8,32f). Lukas hebt immer wieder hervor, dass sich schon der irdische Jesus ganz besonders der Sünder angenommen und ihnen Gottes Vergebung geschenkt hat (Lk 5,32; 7,47-49; 15; 19,8-10; 23,41-43). Mit dem Auferstandenen sagt er, dass “in seinem Namen allen Völkern... die Bekehrung und die Vergebung der Sünden verkündigt“ werde (Lk 24,47). Mit keinem Wort werden Bekehrung und Sündenvergebung an das Sterben Jesu gebunden, obwohl es in ein und demselben Satz genannt wird. Dementsprechend schildert die Apg, wie die Sündenvergebung im Glauben an den Namen Jesu und im Empfang der Taufe geschieht (Apg 2,38; 10,43; 13,38; 26,18), ohne dass hier ein Bezug zum Sterben Jesu “für unsere Sünden“ hergestellt wird (145).

Zu den genannten Beobachtungen passt auch, dass Lukas das Wort, er sei gekommen zu dienen und sein “Leben hinzugeben als Lösegeld für die vielen“ aus der Mk-Vorlage weglässt und durch eine Überlieferungsvariante ersetzt. In ihr spricht Jesus nach dem Abendmahl nur: “Ich bin unter euch wie der Dienende“ (Mk10,45; Lk22,27). Auch ist es verständlich und konsequent, dass der Einwand des Petrus gegen das Leiden des Menschensohnes und die scharf zurechtweisende Antwort Jesu darauf bei Lukas nicht mehr zu hören sind (Mk 8,32f; Lk 9,22). Nach Lukas würde sich das mit der Gottgewolltheit des Leidens Jesu nicht vertragen.

Während die Verwendung der Präposition 'für' sonst im NT vorzugsweise den Gedanken der Stellvertretung und des Zugunsten-Für des Sterbens Jesu ausdrückt, bezieht Lukas sie auf Christen, die “für den Namen Jesu Schmach erleiden“ oder ihr Leben einsetzen (Apg 5,41; 15,25) (145f).

Leben und Weg Jesu als Heilsgeschehen

Nach Lukas ist Jesu gesamtes Wirken ein Dienst (22,27), bei dem es darum geht, “das Verlorene zu suchen und zu retten“ (19,10). Das Heil beginnt schon damit, dass “der Retter geboren ist“ (Lk 2,11). Es gründet schon in der Geburt Jesu. Die Zuwendung Gottes, wie sie im gesamten Leben und Wirken Jesu erfahrbar wurde, gilt für Lukas als Heilsgeschehen (146).

Den Tod Jesu deutet Lukas als Geschick des endzeitlichen Propheten (Lk 13,33) und als das unschuldige Leiden des Gerechten. Lukas versteht das Rettungs-, Erlösungs- und Heilsgeschehen so, dass Jesus als der gehorsame Sohn Gottes, als Prophet und Messias im Einsatz für die Armen, Kranken und Sünder den Weg des unschuldig leidenden Gerechten durch Leiden und Tod in die Herrlichkeit Gottes gegangen ist. Für Lukas sind Leiden und Tod Jesu eine zu durchschreitende Phase auf dem Weg zur Verherrlichung (Lk 24,26). Äußerlich ist der Weg veranlasst durch die religiösen Führer Israels, die die Aussagen der Schrift nicht verstanden haben (Apg 3,17; 13,27). Gott aber hat auf diesem Weg Heil gewirkt, indem er Jesus von den Toten auferweckt, zu seiner Rechten erhöht und zum “Anführer des Lebens“ (3,15; 5,31) gemacht hat (146f).

Anteil an dem von Jesus ermöglichten Heil gewinnen Menschen, indem sie sich glaubend dieser Botschaft öffnen und sich entschließen, durch Umkehr und Taufe (2,37f) Jesus im eigenen Leben nachzufolgen.

Der Weg Jesu wird zum Heilsweg für einen jeden, der “täglich sein Kreuz auf sich nimmt und [Jesus] nachfolgt“ (Lk 9,23). Lukas hat den Zusatz 'täglich' in das von Markus überlieferte Jesuswort eingefügt und damit deutlich gemacht, dass unser ganz alltägliches Leben mit all seinen Belastungen der Weg zum Heil ist: “Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes eingehen“ (Apg 14,22). Dieser Weg zum Heil ist möglich geworden, weil Jesus als “Anführer zum Leben“ ihn vorausgegangen ist und ihn jetzt mitgeht (147).

Bereits der Neugeborene (Jesus) ist das Heil Gottes (Lk 2,30: soterion). Von Anfang an ist Jesus kraft des Heiligen Geistes der eschatologische universale Heilsmittler (Lk 2,11.31). Der Lobpreis des Simeon umfasst die in den lkn Gemeinden vorhandene und in der Apg erzählte Heilserfahrung, von dem in Jesus erschienenen “Heil für alle Völker“ (Lk 2,32). “Alle Menschen werden das Heil Gottes schauen“ (Lk 3,6) (124f).

Ich (Jesus) muss auch den anderen Städten das Reich Gottes verkündigen, denn dazu bin ich gesandt“ (Lk 4,43). Die vorher hervorgehobene Heilsverkündigung an Arme, Gefangene und Kranke wird hier als Verkündigung des Reiches Gottes bezeichnet. Der Leitbegriff 'Reich Gottes' durchzieht das ganze Doppelwerk. Zeugnisinhalt der Apg ist das Reich Gottes (Apg 1,3; 8,12; 19,8; 20,25; 28,23.31) und das Christuskerygma (Apg 2,22-24; 8,12; 9,20-22; 10,37-42; 13,26-37; 17,31;28,31) (127).

Der Weg Jesu gilt zugleich als Weg der Jünger (Lk 9,52.56f; 10,4.38; 18,31-34) und der Jüngerunterweisung. Jüngerschaft zeigt sich dabei als Weg mit Jesus und als Nachfolge Jesu (Wei 129).

                   

(5) Aussagen über Jesu Tod und Auferstehung in der Apg

M. Rese

a. Das Leiden des Christus – ein lkn Summarium

In Apg 3,19; 17,3; 26,23 gilt Jesu Tod als das von Gott vorherbestimmte Leiden des Christus. Die Frage ist, ob damit das Leiden und Sterben Jesu zusammengefasst und unter die Signatur ‚Leiden’ gestellt wird oder ob es einfach ‚Sterben’ heißt.

Ähnliche Formulierungen im Lk-Ev sind Lk 24,26.46 und 22,15, Aussagen, die nur Lukas hat. In Lk 24,26.46 belehrt der auferstandene Jesus erst die zwei Emmausjünger, dann alle Jünger aus der Schrift über das Leiden des Christus und seine Auferstehung. In Lk 22,15 spricht Jesus von seinem Wunsch, vor seinem Leiden das Passa mit seinen Aposteln zu feiern. In Lk 24,7 wird nur bei Lukas in der Geschichte vom leeren Grab (Lk 24,1-12) die mehrgliedrige Leidensansage wiederholt: „Der Menschensohn muss in die Hände von sündigen Menschen ausgeliefert werden, gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen“. Wer diese sündigen Menschen sind zeigt Lk 24,20: Es sind die Hohenpriester und Oberen des Volkes, die Jesus dem Todesurteil übergaben und ihn kreuzigten. In Lk 24,26 heißt es dann nicht umsonst: „Musste nicht der Christus diese Dinge erleiden?“ (341f).

Zu ‚Leiden’ gehört bei Lukas nicht nur das Sterben Jesu am Kreuz, sondern auch das, was zwischen Passamahl und Kreuzigung Jesu geschieht. Für diese Deutung von ‚Leiden’ spricht auch: Lukas hat die zweite mkn Leidensaussage (Mk 9,31) in Lk 9,44 verkürzt zu: „Der Menschensohn muss in die Hände der Menschen ausgeliefert werden“. Außerdem steht nur bei Lukas der Leidenshinweis in Lk 17,25: „Der Menschensohn muss viel leiden und von diesem Geschlecht verworfen werden“. Innerhalb des lkn Doppelwerkes fasst ‚Leiden’ Jesu Leiden und Sterben zusammen (342).

Im Lk-Ev ist aus dem mkn Messiasgeheimnis ein Leidensgeheimnis des Messias geworden. Die Freiheit des Lukas im Umgang mit den mkn Leidensansagen ergibt sich aus den Akzenten, die er in seiner Christologie setzen will. Was aber die durchgehende Einwirkung der Leidensansagen im Werk des Lukas betrifft, so ist die Umwandlung eines Messiasgeheimnisses in ein Leidensgeheimnis Ursache genug, möglichst oft auf das Leiden des Messias hinzuweisen (343).

Die Formulierung ‚Leiden des Christus’ ist Lukas eigenes Summarium des Leidens und Sterbens Jesu. Die entsprechenden zweigliedrigen Aussagen sind auf Lukas selbst zurückzuführen. Vorgegeben waren ihm die mkn Leidensansagen. Sie sind der traditionsgeschichtliche Ursprung des späteren absoluten Gebrauchs von ‚Leiden’ (343).

b. „Ihr habt ihn getötet – Gott aber hat ihn auferweckt“

Übereinstimmend wird in Apg 2,23f; 3,13-15; 4,10; 5,30-32; 10,39-41; 13,27-31 der Tod Jesu als Tat der Einwohner Jerusalems und ihrer Anführer beschrieben, die Auferweckung als Tat Gottes. Jesu Tod wird nicht als Sühnopfer oder Stellvertretung gedeutet (344).

In den Reden der Apg hat Jesu Tod im Gegensatz zu 1Kor 15,3-5 keine sühnende Bedeutung. Lukas vermeidet bewusst Aussagen über die Sühnebedeutung des Todes Jesu. Es fehlt bei ihm eine Entsprechung zu Mk 10,45b „sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“. Zwar wird in Lk 22,37 und Apg 8,32f im Blick auf Jesu Tod aus Jes 53 zitiert, doch sind es nicht die Aussagen in Jes 53, die eine Sühnedeutung des Todes Jesu stützen könnten. Falls der Kurztext im lkn Abendmahlsbericht (Lk 22,14-19a) ursprünglich wäre (wie M. Rese annimmt), würde das in dieselbe Richtung weisen. Auf diesem Hintergrund ließe sich das Fehlen der Sühnebedeutung des Todes Jesu in den kerygmatischen Abschnitten der Apg als bewusste Änderung einer Formel wie 1Kor 15,3-5 deuten (345f).

In Apg 7,52 klingt genau jene Tradition an, aus der Lukas den Satz von der Täterschaft der Jerusalemer Juden bilden konnte: Es ist das Motiv vom Prophetenmord der Jerusalemer. Lukas fand es in seiner Q-Tradition (Lk 13,34f / Mt 23,37-39) (346).

An den zwei entscheidenden Punkten, nämlich beim Fehlen einer Sühnebedeutung des Todes Jesu und bei der Betonung der Täterschaft der Jerusalemer Juden, erweisen sich die Aussagen des Grundschemas als lkn Theologumenon. Sicher ist, dass Lukas sich des traditionellen Motivs des Jerusalemer Prophetenmordes bediente (Re 347).