1.6 Der Konflikt mit Paulus in Antiochien (Gal 2,11ff)

Das Problem der Tischgemeinschaft mit Heiden und die damit verbundene Gefahr des Genusses von Götzenopferfleisch und anderer unreiner Speisen war auf dem Apostelkonzil ungelöst geblieben. Für den gesetzesstrengen Teil der Judenchristen in Eretz Israel blieb die in Jerusalem getroffene Übereinkunft ohne weitere Klärung schwer akzeptierbar (92f).

Lukas verschweigt den Streit zwischen Paulus und Petrus entsprechend seiner harmonisierenden Tendenz seines Werkes. Er weiß mehr, als er erzählt, er übergeht alles, was dem hohen Herrn Theophilos (Lk 1,3) missfallen könnte. Bereits die Trennung von Barnabas (Apg 15,39) weist auf eine Spannung zwischen den beiden bisherigen Missionsgefährten hin und könnte u.a. mit erklären, warum auch dieser sich nach Gal 2,13 Petrus und den übrigen antiochenischen Judenchristen anschloss (93-95).

Paulus reagierte schroff und bezeichnete Petrus Verhalten als „verdammenswert“ (2,11). Petrus hatte sich nach Meinung des Paulus durch sein Verhalten selbst „verurteilt“, denn man musste jetzt fürchten, dass die noch ungefestigten Heidenchristen durch die von den Sendboten des Jakobus geforderten getrennten Mahlzeiten veranlasst werden könnten, die Einhaltung jüdischer Gesetzesvorschriften doch für heilsförderlich zu halten und damit die Rechtfertigung allein aus Glauben an Christus in Frage zu stellen. Paulus wirft Petrus und den antiochenischen Judenchristen einschließlich Barnabas Heuchelei vor. Aus Furcht vor den Jerusalemer Boten würden sie gegen ihre eigene Glaubensüberzeugung handeln. In seiner Sicht ging es um Nötigung und um die Verwirrung der Gewissen der antiochenischen Heidenchristen. Darum wirft er in seinem Zorn dem Petrus vor, er „zwinge“ durch seinen plötzlichen Wechsel im Verhalten bei der Tischgemeinschaft die Heidenchristen jüdisch zu leben, ja er entlarve sich selbst gerade dadurch, dass er die Mauern, die er niedergerissen habe, jetzt plötzlich wieder aufbaue, als Übertreter (Gal 2,18) des Gesetzes, während Christus dadurch in Gefahr gerate, als „Förderer der Sünde“ (2,17) verkannt zu werden. Das zweimalige „Anathema“ in Gal 1,8f zeigt, dass Paulus hier keinen Fingerbreit zu weichen bereit war (95-97).

Für den judenchristlichen Gemeindeteil mit Petrus an der Spitze stellte sich die Situation anders dar. Auch sie müssen aus ihrer Sicht gute Gründe für ihr Verhalten besessen haben. Für sie handelte es sich bei der Einführung getrennter Mahlzeiten vermutlich um eine Rücksichtnahme auf das rituelle Reinheitsverständnis der Gäste aus Jerusalem und damit zugleich auf die immer schwieriger werdende Situation der Judenchristen in der heiligen Stadt und in ganz Judäa. Sie verstanden ihr Verhalten im Grunde als einen Akt brüderlicher Liebe gegenüber der Urgemeinde und ihrer Notlage, die Paulus selbst in seinem 1Thess 2,14f eindrücklich geschildert hatte. Paradox gesprochen dienten für sie die getrennten Mahlzeiten der Aufrechterhaltung der durch die Verfolgung in Jerusalem bedrohten Kirchengemeinschaft zwischen Jerusalem und Antiochien, und zugleich zwischen palästinischen Juden- und antiochenischen Heidenchristen. Sie wollten von den judenchristlichen Gästen aus der heiligen Stadt nicht verlangen, dass sie im heidnischen Antiochien ihre jüdische Identität verleugneten (97f).

Den Bruch, den der öffentlich ausgetragene Streit zwischen Petrus und Paulus bedeutete, können wir uns nicht tief genug vorstellen. Paulus hatte vor versammelter Gemeinde Petrus und die ihm folgten, der feigen Heuchelei und des Verrats gegenüber der „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,14) bezichtigt. Dadurch hatte er sich selbst in den Augen des judenchristlichen Gemeindeteils als aggressiven und rechthaberischen Zerstörer des Friedens isoliert. Der heidenchristliche Teil war noch nicht stark genug, eine eigene selbstständige Rolle zu spielen. Paulus berichtet in harten, deutlichen Worten vom Eklat, die Wunde blieb offen. Die Folgen werden in Antiochien, in Galatien und vor allem in Korinth (und Rom) sichtbar. Der jetzt erfolgte Bruch des Paulus mit der antiochenischen Gemeinde, mit der er wohl über ein Jahrzehnt verbunden gewesen war, zeigt sich daran, dass er in seinen nach dem Konflikt geschriebenen Briefen Antiochien nur noch im Bericht über den damaligen Streit Gal 2,11ff erwähnt. Die Brücken nach Antiochien waren abgebrochen (103f).

Vermutlich ging es auch Petrus bei seinem Nachgeben gegenüber den Boten des Jakobus darum, durch einen Kompromiss die gefährdete Einheit zwischen den Missionsgemeinden außerhalb von Eretz Israel und Jerusalem aufrechtzuerhalten. Er musste Rücksicht nehmen auf die bedrohlicher werdende Situation der mehrfach verfolgten Judenchristen in Jerusalem, denn die zelotisch-nationalreligiösen Tendenzen im palästinischen Judentum verschärften sich. Diese Situation gipfelte 62 n.Chr. in der Steinigung des Jakobus und anderer führender Judenchristen als Gesetzesbrecher (Josephus) (105f).

Der Angriff Kaiser Caligulas (37-41) auf den Tempel, der die Juden an den Rand des Krieges mit Rom geführt hatte, dazu die Rückverwandlung Judäas in eine römische Provinz nach dem frühen Tode Agrippas I., Anfang 44 n.Chr. und die Entsendung unfähiger Prokuratoren hatten den zelotischen Kräften starken Auftrieb gegeben. Deren „Eifer für das Gesetz“ beeinflusste auf die Dauer auch die Judenchristen (Apg 21,28ff). Die Urgemeinde stand unter mehrfachem Druck (105, Anm. 212).

Die Judenchristen in Antiochien sollten durch ihre Tischgemeinschaft mit Unbeschnittenen in den Augen der Jerusalemer nicht als ’unreine’ Gegner der Tora oder gar als ’Apostaten’ erscheinen (106).