1.5 Das Wirken des Petrus außerhalb Judäas

Obwohl Lukas in der Apg die Wirksamkeit des Petrus nach dem ’Konzil’ gewaltsam ’abschneidet’, müssen die darauffolgenden Jahre bis zu seinem Martyrium von entscheidender Bedeutung für sein großes Ansehen gewesen sein, eine Bedeutung, die nicht nur in den Evangelien, sondern auch im 1 Clemensbrief und bei Ignatius sichtbar wird. Dieses Ansehen, das ungleich größer ist als das aller anderen Jünger, wird nur verständlich, wenn man davon ausgeht, dass (gegen Lukas, der Petrus nur bis Caesarea kommen lässt – Apg 10) auch westliche Gemeinden den Apostel selbst oder Sendboten von ihm kennengelernt haben und so direkt oder indirekt von ihm beeinflusst wurden und zwar nicht nur in Syrien, Antiochien und Rom, sondern auch dazwischen an wichtigen Orten wie etwa den Provinzhauptstädten Ephesus und Korinth. Die fünf kleinasiatischen Provinzen in 1Ptr 1,1 als Heimat der „auserwählten Fremdlinge“, Pontos, Galatien, Kappadozien, Asia und Bitynien, setzen voraus, dass Petrus in diesen Gebieten als Autorität galt (78-80).

Das Zurücktreten des Jakobus in der Überlieferung des 1. Jh.s ist eine Folge der Schwächung des palästinischen Judenchristentums auf Grund der Steinigung des Herrenbruders 62 n. Chr. und durch den vier Jahre später ausbrechenden Jüdischen Krieg, von dem es sich nicht wieder erholt hat. Auch ist es ein Ausdruck für eine wachsende Entfremdung zwischen den gesetzestreuen Judenchristen (im Mutterland) und dem immer stärkeren Übergewicht der Kirche aus den Völkern nach 70, die die Autorität des Petrus, nicht aber die des Jakobus anerkannte. Petrus war kein Vertreter des gesetzesstrengen Judenchristentums. Er stand zwischen den beiden Flügeln, die durch Jakobus und Paulus (und ihre z.T. extremen Anhänger) markiert sind. Eben diese Zwischenposition, die für das Heidenchristentum offen war und theologisch (bei allen Differenzen) Paulus näherstand als dem gesetzesstrengen Flügel im Urchristentum, bildet die Voraussetzung der großen Wirksamkeit des Petrus (83f).

a) Petrus wurde trotz
der bei dem ’Konzil’ getroffenen Abmachung in den Jahren danach mehr und mehr auch zum Heidenmissionar, und zwar in einer für Paulus und ihn selbst äußerst schmerzlichen Konkurrenzsituation. Die in Jerusalem beschlossene Trennung zwischen Juden- und Heidenmission war in den gemischten Gemeinden außerhalb des Mutterlandes nicht durchführbar. Die beiden Apostel hatten sich bei dem Konflikt in Antiochien (Gal 2,11ff) gegenseitig tief verletzt und wurden dadurch zu Kontrahenten, ein Vorgang, der nicht nur in Gal 2 seinen Niederschlag gefunden hat, sondern auch in den Briefen des Apostels nachwirkte, den aber Lukas um seines harmonischen Bildes willen verschweigen muss. Darum lässt er Petrus nach dessen propln Rede auf dem Apostelkonzil Apg 15,7-11 abrupt von der Bühne abtreten (84f).

b) Im Gegensatz zu dem
ehemaligen Verfolger Paulus, aber auch zu Jakobus der vor der Passion seinem Bruder skeptisch gegenübergestanden hatte, verfügte Petrus über die Fülle der Jesustradition, die die Worte und Taten des Messias umfasste. Seine einzigartige Bedeutung in den Evangelien hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er als Autorität in einer allmählich immer stärker werdenden heidenchristlichen Kirche mit dieser Jesusüberlieferung verbunden wurde. Vermutlich war Petrus schon als Jünger von der freieren Haltung Jesu gegenüber den rituellen Geboten und seiner Konzentration des Gotteswillens auf das doppelte Liebesgebot beeindruckt worden. Dass die jüdisch-messianische Bewegung der Urkirche so rasch in wenigen Jahren die Grenzen von Eretz Israel und die religiösen Grenzen des strengen Judentums überschreiten konnte, muss seine Wurzeln letztlich im Verhalten Jesu selbst haben. Zu den endzeitlichen Verheißungen der Propheten für die Zeit des Messias gehörte auch die Öffnung des Gottesvolkes für die Völker (85f).

c) Theologisch war Petrus
nicht mehr gesetzesstreng. Vermutlich stand er ab Ende der dreißiger Jahre in der Frage des jüdischen Gesetzes mit seinen rituellen Geboten und der Notwendigkeit des rettenden Glaubens an Jesus näher bei den ’Hellenisten’ und bei Paulus als bei Jakobus und dessen Ältesten, obwohl auch Jakobus eine Heidenmission ohne Beschneidung nicht ablehnte (Gal 2,9: Apg 15,13-21). Dieser wollte jedoch gegenüber den Juden in Eretz Israel den die dortige Existenz der Gemeinde mehr und mehr bedrohenden Vorwurf der Apostasie vermeiden und darum für die Glaubensbrüder im Mutterland an der Forderung eines gesetzesstrengen Judenchristentums festhalten. Dies erklärt, warum der Einfluss des Petrus in Jerusalem zugunsten des Jakobus allmählich zurückging, während sein Ansehen in den Missionsgemeinden der Diaspora wuchs (86-8).

Der auf dem Apostelkonzil zwischen den drei 'Säulen', Jakobus, Kephas und Johannes, auf der einen und Paulus und Barnabas auf der anderen Seite ausgehandelte Kompromiss: „Wir zu den Heiden, sie aber zu den Juden“ (Gal 2,9) gründete auf der Einsicht, dass bereits bisher dem Paulus und Barnabas die Evangeliumsverkündigung gegenüber den „Unbeschnittenen“, dem Petrus aber gegenüber der „Beschneidung“ zugeordnet war. Die Übereinkunft zeigt, dass Petrus schon bisher als der erfolgreichste Verkündiger der neuen Botschaft gegenüber seinen Volksgenossen galt, ein Bild das die Apg 2 – 5 und 9, 32-43 für das Mutterland, aber auch Markus und Matthäus mit dem Bild vom Menschenfischer bestätigen. Petrus besaß in besonderer Weise das „Apostelamt in Bezug auf die Beschneidung“ (Gal 2,8). Wahrscheinlich hat er nach seiner Flucht aus Jerusalem 42/43 n. Chr. auch außerhalb Palästinas nicht ohne Erfolg unter Juden missioniert. Am nächsten lag der syrische Raum mit seinem großen Anteil der jüdischen Diaspora. Es ist aber nicht auszuschließen, dass er auch andere Gebiete bereiste. Die beim Apostelkonzil vereinbarte Trennung von Juden- und Heidenmission erwies sich als unrealistisch, denn sie ließ sich in der Praxis nicht aufrechterhalten, zumal die ’Heiden’ ursprünglich ganz überwiegend mit der Synagoge eng verbundene Gottesfürchtige waren und dem Judentum mehr oder weniger nahestanden. Darum suchte Paulus an neuen Missionsorten zunächst die Synagoge auf, weil er dort Gottesfürchtige ansprechen konnte, die rechtlich gesehen noch unbeschnittene Heiden waren. Weil der judenchristliche Anteil in den pln Gemeinden nicht gering war, hatten Petrus und seine Sendboten die Möglichkeit, entsprechend der Abmachung beim Apostelkonzil auch pln Gemeinden zu besuchen (88-90).

Paulus geht in seinen Briefen von den Voraussetzungen jüdischer Tradition und Exegese aus. Ohne die alt-jüdische Vorbildung der Mehrzahl seiner Zuhörer, etwa durch die Synagogenpredigt, wären weder seine Missionsverkündigung noch seine Briefe in den Gemeinden verstanden worden. Umgekehrt wurde Petrus außerhalb von Eretz Israel immermehr auch zum Heidenmissionar, da dort die Gemeinden gemischt waren und gemeinsame Gottesdienste feierten, so dass sich eine strenge personale Trennung zwischen Juden- und Heidenchristen nicht durchführen ließ. Lukas wusste um diesen Tatbestand und ließ daher die Heidenmission schon früh durch die Predigt des Petrus vor dem gottesfürchtigen Centurio Cornelius in Caesarea begründet werden, schließt aber dann den Petrus von der Heidenmission aus. Umgekehrt lässt Lukas entgegen der Darstellung des Paulus und aller historischen Wahrscheinlichkeit die Heidenmission der Hellenisten und des Paulus in Antiochien erst beginnen, nachdem Petrus bei Cornelius dazu grünes Licht erhalten hatte (90f).